Kulturrevolution für die Arbeitsgesellschaft
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- 26 November 2010
- von Elmar Altvater
Der Wohlstand der Nationen wächst durch steigende Produktivität. Doch durch die Erhöhung der Produktivität steigt auch die Zahl der prekär Beschäftigten, der Erwerbslosen, der informell Arbeitenden. Die Fixierung auf Wachstum ist ungeeignet, diese Entwicklung umzukehren. Es ist Zeit, in der Arbeitsgesellschaft neue Wege zu beschreiten.
Mit einer wachsenden Wirtschaft scheinen viele der drängenden Probleme der Menschheit lösbar. Die Wirtschaft könnte herauswachsen aus den immensen Schulden, die die Staaten zur Rettung der Finanzvermögen gemacht haben und weiterhin machen. Auf expandierenden Märkten können mehr Waren verkauft werden. Um diese Waren zu produzieren, würden neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Der Kampf gegen Armut und Hunger wäre vielleicht doch noch erfolgreich. Und die Millenniumsziele der Vereinten Nationen aus dem Jahr 2000, etwa Bildung für alle, Verringerung der Kindersterblichkeit, Bekämpfung von Aids und Malaria, wären vielleicht doch noch zu erreichen.
Sinkende Wachstumsraten
Doch aller Beschwörungen zum Trotz sind die Wachstumsraten überall in der Welt rückläufig. In Deutschland wuchs das Bruttoinlandsprodukt in den 1950er Jahren mit mehr als acht Prozent pro Jahr. Im nächsten Jahrzehnt halbierten sich die Zuwachsraten, um in den folgenden Jahrzehnten auf 2,6 Prozent abzusacken. In den 1990er Jahren betrug die Wachstumsrate nur noch 1,2 Prozent. Sie wird im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts mit Sicherheit noch niedriger sein, auch wenn derzeit viel vom „Job-Wunder“ und von „Boom-Germany“ die Rede ist. Zwar sehen die deutschen Wirtschaftsdaten im Jahr 2010 freundlicher aus, als noch vor einem Jahr erwartet. Doch umso düsterer ist die Lage anderswo in Europa. Die deutschen Exportüberschüsse sind daran nicht unschuldig. Für die in der längerfristigen Perspektive tendenziell abnehmenden Wachstumsraten der Wirtschaft gibt es eine Reihe von nachvollziehbaren Gründen.
Allein um konstante Wachstumsraten aufrecht zu erhalten, bedarf es zusammen mit der Niveausteigerung immer höherer absoluter Zuwächse des Bruttoinlandsprodukts. Das gilt auch für den Verbrauch von Ressourcen und für die Emissionen von Schadstoffen. Sind die globalen Ölressourcen gerade angezapft worden, kann die Ölförderung problemlos gesteigert werden, da durch Exploration immer neue Reserven hinzukommen. Jenseits eines Höhepunktes, der in der Wissenschaft als „Peak Oil“ bezeichnet wird, gehen die Reserven jedoch allmählich zur Neige.
Neue Ölfelder werden nicht mehr gefunden. Die Erde ist bereits gelöchert wie ein Schweizer Käse. Und die Förderung von so genanntem nicht-konventionellem Öl, zum Beispiel aus der Tiefsee, ist teuer und extrem gefährlich, wie die Havarie der Ölplattform „Deepwater Horizon“ vor der Südküste der USA beweist. Dort entsteht zurzeit zwar auch Wachstum, nämlich durch mannigfaltige Aufräumarbeiten. Ein überzeugender Beleg für mehr Wohlstand ist das aber nicht.
Wachstum ist also an den Grenzen der Umwelt kein Medikament ohne gefährliche Nebenwirkungen. Können diese Nebenwirkungen in Kauf genommen werden, weil Arbeitsplätze entstehen? Unter kapitalistischen Verhältnissen werden Arbeitskräfte nur eingestellt, wenn mit ihnen Gewinn gemacht werden kann. Die Produkte ihrer Arbeit müssen als Waren auf globalen Märkten konkurrenzfähig sein. Preis und Qualität müssen stimmen, die Nachfrage muss da sein. Daher kommt es immer auch auf die Arbeitsproduktivität und die Einkommensverteilung an, wenn die Beschäftigung gesteigert werden soll.
Die Produktivität der Arbeit zu erhöhen, ist ein höchst komplexer Prozess. Er verlangt nicht nur technischen Fortschritt, sondern auch Bildung und Ausbildung der Arbeitskräfte. Er bedarf neuer sozialer und organisatorischer Arrangements, entsprechender politischer Rahmenbedingungen und kultureller Veränderungen. Der Markt ist dazu wenig geeignet. Marktakteure sind nicht weit-, sondern kurzsichtig. Sie lassen sich von kurzfristigen Profiterwartungen leiten, nicht von langfristigen Entwicklungsperspektiven.
Auch sind ökonomische Abschreibungen veralteter und Investitionen in neue Anlagen notwendig, um die Produktivität der Arbeit zu erhöhen. Dadurch steigt aber auch die Kapitalintensität, also das Verhältnis zwischen eingesetztem Kapital pro Arbeitskraft. Karl Marx hat das die „organische Zusammensetzung des Kapitals“ genannt. Durch die verbesserte Produktivität kann die Wachstumsrate der Wirtschaft angehoben werden, zumal dann, wenn die Produktion konkurrenzfähig ist.
Doch die steigende organische Kapitalzusammensetzung lässt die Profitrate sinken. Wenn dies dann dazu führt, dass weniger investiert wird, nimmt die Akkumulationsrate ab. Liquides Kapital wird dann eher im Finanzsektor als in der realen Wirtschaft investiert. Das führt dazu, dass die realen Überschüsse zurückgehen, während die finanziellen Forderungen steigen. Das ist eine Konstellation, in der Finanzkrisen nahezu unvermeidlich werden, wie die jüngsten Erfahrungen lehren.
Erhöhte Produktivität der Arbeit steigert den „Wohlstand der Nationen“, wie Adam Smith, ein Klassiker der Politischen Ökonomie, feststellte. Doch die unvermeidliche Kehrseite ist die Freisetzung, also das Überflüssigwerden von Arbeitskräften. Smith hat die Freigesetzten deshalb als „Überflussbevölkerung“ bezeichnet. Es handelt sich um die prekär Beschäftigten, die Arbeitslosen und informell Arbeitenden der heutigen Zeit. Als Folge des Produktivitätsfortschritts ist von allem zu viel da. Die Kaufkraft hält nicht mit und die Zahl der normal beschäftigten Arbeitskräfte auch nicht.
Verkürzung der Arbeitszeit
Die Annahme, dass die „Überflussbevölkerung“ durch Wachstum, also durch die Ausdehnung des Arbeitsvolumens, wieder beschäftigt werden könnte, hatte schon Karl Marx kritisiert. Die Kapitalisten wollen bezahlte Arbeit einsparen. Deshalb muss der Freisetzungseffekt größer sein als die Ausweitung der Produktion. Die volle Kompensation der Freisetzung würde den Zweck, nämlich Arbeitskosten zu senken, hintertreiben.
Anders als im Kapitalismus des 19. Jahrhunderts dreht sich die Diskussion heute um eine neue Form der Kompensation, nämlich um Arbeitszeitverkürzung. Tatsächlich ist Arbeitszeitverkürzung die einzige Möglichkeit, um das Anwachsen der „Überflussbevölkerung“ als Folge des Produktivitätsfortschritts zu vermeiden. Sie verlangt in der Arbeitsgesellschaft nach einer kleinen Kulturrevolution mit möglicherweise weitreichenden Folgen: Es geht um die Transformation von fremdbestimmten Zeiten in Eigenzeit, um eine Reorganisation von Lohnarbeit, um die Ausdehnung von Freizeit und Gemeinwesenarbeit. Es geht um eine grundlegende Veränderung des Verhältnisses zur äußeren und zur inneren Natur. Eine Kulturrevolution ist angesagt.
Dieser Text erscheint zeitgleich in „clara“, dem Magazin der Linksfraktion im Bundestag.