Gefahr und Gelegenheit für sozialökologische Mobilitätswende
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- 23 April 2020
- von Sabine Leidig
Milliardenhilfen müssen die Weichen stellen für eine NEUE Normalität: Mobilität und gute Arbeit für alle – mit weniger Verkehr.
Die Erfahrungen und Auswirkungen der Corona-Krise sind noch „im Werden“. Sicher ist die verbreitete Erkenntnis, dass „der Markt“ weder ein krisenfestes Gesundheitswesen schafft, noch dazu taugt, Wirtschaft und Gesellschaft durch Krisenzeiten zu steuern. Das gilt auch für die globale Klima- und Biokrise. Schlussfolgerungen und Maßnahmen zur Corona-Krisenbewältigung sind schon jetzt Gegenstand gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen. Das chinesische Zeichen für Krise bedeutet Gefahr und/oder Gelegenheit – und das gilt auch für den Verkehrssektor: Es besteht die Gefahr, dass Konjunkturpakete die fossile Industrie restaurieren, dass Abwrackprämien, Kaufprämien oder Steuervergünstigungen die Automobilgesellschaft verfestigen, während im Öffentlichen Verkehr die erzwungenen Einschränkungen und Einnahmeausfälle zu dauerhafter Reduzierung des Angebotes führen kann. Aber die anstehenden staatlichen Hilfen und Eingriffe, die Milliardensummen, die jetzt vom Bund ausgegeben werden, bieten auch die Möglichkeit, Strukturwandel in großen Schritten voranzubringen. Eine wirkliche Mobilitätswende hin zu guten und preiswerten Verbindungen per Bus und Bahn, mit guten Bedingungen für Fuß und Fahrrad, schafft viele neue Arbeitsplätze, verbessert Luft und Lebensqualität und trägt zu Umwelt- und Klimaschutz bei. Setzen wir auf diese Gelegenheit!
Öffentlich ist wesentlich: Aufbauhilfen für Bahn und ÖPNV
Das Mobilitätsverhalten hat sich in der Coronakrise zwangsläufig verändert: In Städten wird das Fahrrad mehr genutzt. Obwohl es einen deutlichen Rückgang von Kfz-Fahrten gibt, wächst sein Anteil am modal split und der ÖPNV verliert große Teile seiner Fahrgäste. Das hat dramatische Einnahmeverluste zur Folge – ver.di geht von 60–90 Prozent aus. Hinzu kommen höhere Kosten für Reinigung und Gesundheitsschutz. Der ÖPNV als systemrelevante Branche muss ausreichend und verlässlich Personal vorhalten, um die notwendige Mobilität zu gewährleisten. Und zudem werden mehr Fahrzeuge für weniger Fahrgäste benötigt, damit das Distanzgebot von 1,5 Metern eingehalten werden kann. Höchste Eisenbahn für Erste Hilfe!
Die Einnahmeausfälle und Extrakosten im ÖPNV sowie bei der Bahn müssen vollständig vom Bund übernommen werden. Im Gegenzug sind Arbeitsplätze, Einkommen und Tarifbindung für die Beschäftigten zu sichern. Und die Fahrpläne müssen mindestens auf das reguläre Niveau von vor der Krise gebracht werden, damit Abstandhalten möglich ist. Klimafreundlicher Verkehr darf nach Corona nicht benachteiligt sein – im Gegenteil. Zur Belebung der Konjunktur und zur Unterstützung des sozialökologischen Umbaus bleiben dringend notwendige Investitionen in die ÖV-Infrastruktur oder Angebotsverbesserungen auf der Tagesordnung: ein Sonderprogramm zur Stärkung des ÖPNV in den Kommunen von einer Milliarde Euro jährlich bis 2025 ist gut investiertes Steuergeld. Genauso wie ein bedarfsgerechtes Ausbauprogramm für die Bahn in der Fläche.
Damit Planungs- und Baukapazität auch kurzfristig erweitert werden können, soll der Neu- und Ausbau von Autobahnen und Bundesstraßen zu Gunsten von Bahnprojekten eingestellt werden.
Autohersteller können auch ander(e)s: Produktkonversion fördern
Dass Autozulieferer jetzt Mundschutz herstellen statt Lederbezüge für Premiumwagen oder dass VW oder Daimler in die Medizintechnikproduktion einsteigen wollen, ist keine Alternative auf Dauer. Aber dass in der Industrie über Produktkonversion nachgedacht wird, dass Möglichkeiten und Hindernisse analysiert werden, wie es der VDI getan hat, ist ein Anfang. Jetzt darf diese Tür nicht wieder zufallen. Ein Förderprogramm für die Umstellung der Produktion auf sozial und ökologisch nachhaltige Erzeugnisse soll in zweierlei Richtung gehen: Erstens: „Ein-Liter-Auto“ (klein, leicht, sparsam), und zweitens: Fahrzeuge und Technik für Bahn und ÖPNV. Außerdem müssten transparent arbeitende, regionale Transformationsräte aus Industrie, Gewerkschaft, regionaler Politik, Umwelt- und Verkehrsverbänden unverzüglich aufgebaut werden, die ebenso wie Betriebsräte mit Initiativrechten für die weitere Transformation ausgestattet sein sollen.
Spielraum in den Städten und Entschleunigung im Straßenverkehr
Nicht nur in Zeiten von „physical distancing“ ist es wichtig, dass die Menschen sich im Freien bewegen können. Gerade in dicht bebauten innerstädtischen Wohnvierteln sind die Fußwege häufig so schmal, dass Abstand halten kaum angemessen möglich ist. Auch der Platz auf Grünflächen und Spielplätzen reicht häufig nicht aus – schon gar nicht, um ausreichend Abstand zu halten. Straßenraum sollte deshalb zunächst provisorisch (ohne großen Aufwand, ganz einfach mit Baustellenmarkierungen) zu Fuß- und Radverkehrsflächen und/oder Erholungsflächen umfunktioniert werden. Die Straßenverkehrsordnung ist so zu verändern, dass es den Kommunen erlaubt wird, solche Umwidmungen von Verkehrsflächen probehalber und auch dauerhaft zu vollziehen. Für sichere Fahrradwege und Fußgängerinnen-gerechten Stadtumbau könnten in den kommenden fünf Jahren mit jeweils vier Milliarden Euro jährlich spürbare Schritte gemacht werden.
Außerdem endlich (!) Geschwindigkeitsbegrenzungen 30/80/120 km/h zur Verhinderung schwerer Unfälle und zur Entlastung der Krankenhäuser. Es ist grotesk, dass mehrere tausend Tote jedes Jahr im Straßenverkehr hingenommen werden, während zum Schutz vor Ansteckung mit Corona massive Einschränkungen akzeptiert werden.
Himmlische Ruhe: Flugverkehr re-regulieren
Die Bundesregierung muss den dramatischen Einbruch im Luftverkehr, der sehr wahrscheinlich bei allen europäischen Fluggesellschaften zu massiven Staatshilfen führen wird, zum Anlass nehmen, mit den europäischen Partnern eine soziale, ökologische und zukunftsfähige Re-Regulierung des europäischen Luftverkehrs vorzunehmen. Vor allem müssen jene Geschäftsmodelle unterbunden werden, die mit Dumping-Löhnen und Umgehung von arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Regeln die Billigflüge auf dem Rücken der Beschäftigten „produzieren“.
Und jetzt (!) ist die Gelegenheit, Kurzstrecken-Flüge (bis 500 Kilometer) zu untersagen und damit einen erheblichen Anteil der Starts und Landungen einzusparen. Der Nutzen: weniger Klimabelastung, Luftverschmutzung und Lärm; die Lufthansa und andere Airlines würden sich die Flüge sparen, mit denen sie schon vorher teilweise rote Zahlen geschrieben haben.
Im Gegenzug braucht es ein Programm speziell zur Verlagerung von Kurzstreckenflügen auf die Bahn. Dafür braucht die Bahn mehr Züge, insbesondere für zusätzliche Sprinter-Verbindungen und bessere Kooperation mit den Nachbarn.
Anders arbeiten und neue Berufsperspektiven fördern
Damit neue Perspektiven an- und eingenommen werden können, darf die Veränderung der Arbeit nicht mit Angst vor sozialem Abstieg verbunden sein. Es gibt Erfahrungen, Konzepte und neue Ideen, die Beschäftigte absichern und ermächtigen: Transformations-Kurzarbeitsgeld, Umschulungsangebote mit Einkommensverlustausgleichen, Arbeitsplatz- und Einkommensgarantien für Wechselwillige, Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen, Arbeitszeitsouveränität und kurze Vollzeit. Auch hierfür sind in der Corona-Krise Anknüpfungspunkte entstanden… Gelegenheiten.
Erschienen in https://diefreiheitsliebe.de/politik/meinungsstark-politik/gefahr-und-gelegenheit-fuer-sozialoekologische-mobilitaetswende/