Unfälle, Kartelle - alles Bagatelle?

Aus der Ferne hat man den Eindruck, dass es ruhig um Stuttgart 21 geworden ist - aber dieser Eindruck täuscht: Die Montagsdemos gehen weiter, am letzten Samstag, dem 29.9. gab es im Gedenken an den ungewöhnlich harten Polizeieinsatz gegen Stuttgart-21-Gegner vor zwei Jahren eine Großdemonstration. Am selben Tag entgleiste ein IC im Gleisvorfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs - dort, wo die Gleisanlagen umgebaut wurden, um Platz für die Bauarbeiten für S21 zuschaffen, und wo bereits ein anderer Fernzug und eine S-Bahn entgleist waren.
Vor einiger Zeit kamen Interna zum "Schienenkartell" ans Licht der Öffentlichkeit: Jahrelang gab es Absprachen und überhöhte Preise der Schienenhersteller - Extraprofite auf Kosten der Schieneninfrastruktur und der Steuerzahler. Die Deutsche Bahn AG saß offensichtlich mit dabei - und ihre Vertreter hatten alles andere als den Ausbau einer guten Bahn im Blick. Kartelle, Geheimsabsprachen, Prestigeprojekte, Sparen an der falschen Stelle und Unfälle: Wann bekommen wir endlich Verkehrsminister und eine Bahnführung, die sich wirklich um die Bedürfnisse der Menschen kümmert?

 


 

Rede Winfried Wolf // Stuttgart // Demo am 29. September 2012


Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

lasst mich zu Beginn dem langjährigen Oberbürgermeister dieser Stadt das Wort  geben; er schrieb:

„Ich freue mich, dass der Stuttgarter Hauptbahnhof (…) ein solch markantes Wahrzeichen unserer Stadt, (…) eine unverzichtbare Bereicherung des Stadtbilds (ist). (…) Die Landeshauptstadt hat mit ihrem Hauptbahnhof ein würdiges Tor zur Welt.“[1]

Das schrieb Manfred Rommel 1987.

Warum, so fragen wir, störte Rommel sein Geschwätz von 1987 bereits im Jahr 1994 nicht mehr? Damals verkündete er – zusammen mit Heinz Dürr (damals Bahnchef, damals Autozulieferer, heute immer noch Autozulieferer) und Matthias Wissmann (damals Bundesverkehrsminister, heute Präsident des Verbandes der Deutschen Autoindustrie – VDA)  das Projekt Stuttgart 21 und damit die Verstümmelung dieses „Wahrzeichen unserer Stadt“.

Warum wollten die Ministerpräsidenten Teufel, Oettinger und Mappus zulassen zulassen, dass mit S21 die Bahnhofskapazität verringert wird und damit § 15 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes  verletzt wird? Und warum akzeptiert es der gegenwärtige grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann, mitverantwortlich für einen solchen Gesetzesbruch zu werden?

Warum gab es vor zwei Jahren diesen brutalen Polizeieinsatz, von dem Wolfgang Schorlau sagt, den habe nur ein Barbar befehlen können?  Und warum  organisiert auch die grün-rote Landesregierung keine Aufarbeitung dieses Vorgangs und lässt stattdessen bei Herrn Reicherter eine infame Hausdurchsuchung durchführen?

Ohne Zweifel spielen hier Machtgeilheit und Zynismus eine erhebliche Rolle.

Es sind jedoch zwei Elemente, die eine tiefere Erklärung für diese Vorgänge liefern:

Erstens: Die Machtpositionen im öffentlichen Sektor sind von Leuten besetzt, die den öffentlichen Sektor zerstören wollen.

Zweitens : Es wird bewusst und gezielt eine Symbolpolitik durchgeführt: Die Oberen wollen den Leuten unten zeigen, dass sie unten sind und dass sie unten bleiben, wollen demonstrieren, wo dr Bartl den Moscht holt.

 

Zum ersten Aspekt

Ich wiederhole jetzt nicht ausführlich, dass die Bahnchefs Dürr, Mehdorn und Grube aus der Daimler-Kaderschmiede kommen und wie diese das Geschäft von Daimler und Airbus betreiben. Ich möchte hier meine wertvolle Zeit nur auf das Kartell „Die Schienenfreunde“  lenken.

Seit Sommer letzten Jahres ist bekannt: Es gab seit den 1990er Jahren und bis 2011 ein geheim agierendes Kartell aller europäischen Stahlkonzerne und wichtiger Bahntechnikhersteller. Diese lieferten der Bundesbahn und ab 1994 der Deutschen Bahn AG alle Schienen, alle Weichen und einen großen Teil der Schwellen zu Preisen, die um 30 bis 50 Prozent überhöht waren. Führer des Kartells waren Thyssen (Deutschland) und Voest-Alpine (Österreich). Der Schaden allein bei der Deutschen Bahn liegt weit über einer Milliarde Euro. Komisch war dann: Es gab keinen Aufschrei. Und noch seltsamer: Anfang 2012 erteilte die Deutsche Bahn der Voestalpine sogar einen neuen Großauftrag zum Schieneneinkauf.

Seit zwei Wochen veröffentlichte das „Handelsblatt“: Vertreter der  Bahn waren bei den Kartellrunden waren Manager der Bahn selbst dabei. Und: Die Profiteure des Kartells und Vertreter des Geschädigten gingen anschließend ins Bordell – meist ins „Bel Ami“ in Berlin. Allein  für den Zeitraum 2005 bis 2009 rechnete Voest Alpine solche Rotlicht-Besuche der Kartellbrüder beim Finanzamt ab – exakt in Höhe von 71.276,24 Euro – also steuermildernd. Auf der Rückseite der Rechnungen waren meist die Namen der Beteiligten notiert.

Erneut: Kein Aufschrei. Und irgendwie komisch: Die Bahn dementiert lendenlahm . Doch sie erzwingt im „Handelsblatt“ keine Gegendarstellung.

Seit heute weiß die breitere Öffentlichkeit mit dieser öffentlichen Veranstaltung: Der Vorstandsvorsitzende des einen Kartellführers, Dieter F. Vogel, musste 1998 bei Thyssen gehen. Doch er wurde  ein Jahr später Aufsichtsratschef der Deutschen Bahn AG. Eingesetzt durch Gerhard Schröder, den Autokanzler.

Im Klartext:

  • Der Bund, der Staat, zahlt Jahr für Jahr erhebliche Summen an Steuergeld für Bahninfrastruktur. Aktuell sind es rund drei Milliarden jährlich.
  • Die private Stahlindustrie verkauft die Schienen der Bahn, indirekt dem Staat, zwei Jahrzehnte lang zu massiv überhöhten Preisen – und die Bahnmanager kriegen das angeblich nicht mit.
  • Laut Handelsblatt sitzen Bahnvertreter immer mit im Kartell-Boot. Und: Der Top-Mann des einen Kartellführers wurde zum obersten Kontrolleur der Bahn bestellt.
  • Damit bekommen die Fahrgäste und die Allgemeinheit deutlich weniger als marktüblich für das Steuergeld. Die Infrastruktur wäre wesentlich besser (oder nicht so schlecht) wie heute, wenn zu Marktpreisen abgerechnet worden wäre.

Honi soit qui mal y pense. Oder: Des Gschmäckle stinkt zum Himmel. Oder: Heinrich Steinfest: Übernehmen Sie. Dieser Plot ist doch noch deutlich mehr crazy als der in Ihrem Roman „Wenn die Löwen weinen“.[2]

Gibt´s einen Aufschrei? Wird die „Stuttgarter Zeitung“ am kommenden Montag damit aufmachen? Wohl eher nicht.

Es gibt ja auch dann keinen Aufschrei, wenn 75 Prozent der Bevölkerung eine Bahn in öffentlichem Eigentum wollen, und wenn dennoch mehr als 90 Prozent der Bundestagsabgeordneten die Bahn in der einen oder anderen Form privatisieren wollen.

 

Zum zweiten Aspekt, der Symbolpolitik,
dem Zeigen, wo der Bartl den Moscht holt. Drei Beispiele.

Beispiel 1 dieser Symbolpolitik: Was passierte 2002 auf dem Höhepunkt der Massenerwerbslosigkeit? Autokanzler Gerhard Schröder und Peter Hartz zertrümmerten den Sozialstaat. Sie führten ein europaweit einmaliges Armuts- und Niedriglohnsystem ein. Doch wer ist Peter Hartz? Ein Top-VW-Manager, der mehr als ein Jahrzehnt lang den Betriebsrat bei VW in einen raffinierten Kokon von Korruption und Rotlicht-Freundschaften einwickelte. Wie heißt das deutsche Armuts-System bis heute: Hartz IV. Ein Halbkrimineller als Namensgeber für den staatskriminellen Angriffe auf die soziale Sicherheit.

Beispiel 2 der Symbolpolitik: Was passierte auf dem Höhepunkt der Finanzkrise 2008? Die Bundesregierung peitschte ein Sondergesetz, genannt „Finanzmarktstabilisierungsgesetz“, durch den Bundestag´. Auf dieser Grundlage  erhalten insbesondere Banken bis zu 400 Milliarden Euro Steuergeld – ohne Kontrolle, ohne Transparenz, ohne Gegenleistung. Die Formulierungen des Gesetzes wurden Wort für Wort von einer Kanzlei verfasst, die für die selben Konzerne und Banken tätig ist, die von dem Gesetz profitieren.

Nun hatte ja ein Jahr zuvor der Deutsche Bank-Chef Joseph Ackermann seinen 65. (?) Geburtstag im Kanzleramt gefeiert. Das erfuhr  die Öffentlichkeit allerdings  erst nach der Finanzkrise. Und sie erfuhr es durch Ackermann selbst.

Der sagte dazu im ARD-Fernsehen:

„Angela Merkel hat mir damals gesagt, sie würde gerne etwas für mich tun. Ich solle doch mal etwa 30 Freundinnen und Freunde einladen aus Deutschland und der Welt, mit denen ich einen Abend zusammen sein würde im Kanzleramt (…) Ich muss sagen: Es war ein wunderschöner Abend.“

Wir fragen: Hat Ackermann dort gefeiert, weil er die Helmut-Kohl-Architektur dieses Beton-Bunkers  so kuschelig findet oder weil er Angie so mag? Oder vielleicht einfach deshalb, weil er demonstrieren wollte: In diesem Gebäude der scheinbaren Macht gehen die Vertreter der tatsächliche Macht, der profitablen, KAPITAL-MACHT, ein und aus… und diktieren gegebenenfalls auch die Gesetze.

 

Beispiel 3 dieser Smybolpolitik: Was passierte nach der Wende mit dem Brandenburger Tor in Berlin? Die Seitenflügel wurden neu errichtet, sodass das Tor wieder ein großes Entree bildet.

Und was passierte in Stuttgart: Die Seitenflügel des Kopfbahnhofs wurden abgerissen. Wie sagte der OB Rommel: „Die Landeshauptstadt hat mit ihrem Hauptbahnhof ein würdiges „Tor zur Welt“.

Eben dies soll sie nicht mehr haben – es soll kein Tor des Schienenverkehrs zur Welt mehr geben.

Und vor allem – und das ist das entscheidende, das ist Symbolpolitik hoch zwei:  Es soll keinen Sieg derjenigen geben, die für ihre Stadt und für ihren Bahnhof kämpfen. Wenn Angela Merkel einmal sagte, nur wenn man Stuttgart 21 durchsetze, könne man von den –Griechinnen und Griechen auch fordern, dass sie sparen, macht in diesem Zusammenhang durchaus und in doppelter Hinsicht  Sinn. Man demonstriert in Stuttgart und bundesweit Härte gegenüber einer solchen Bewegung  und man tritt mit der massiv deutsche bestimmten Troika in Griechenland brutal auf – was wiederum den Menschen in Ganz Europa  zeigen soll: So schlimm kann es werden, wenn man sich dem neoliberalen Diktat widersetzt.

 

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

manchmal höre ich nach meinen Reden: das sei ja alle sowas von düster. Da kann ich nur antworten: Das ist realistisch – aber zugleiuch der realistische Ausgangspunkt für unseren Kampf . Das erklärt doch auch, warum der Kretsch, warum der Winne Hermann derart kuschen und keinen Arsch in der Hose haben. Wer oben ist und oben bleiben will, der muss mitmachen beim Nach- unten-treten.

Doch die Geschichte  zeigt, dass die kleinen Leute Erfolg haben können – wenn sie sich zusammentun, wenn sie auf die Straße gehen. Wenn sie kämpfen.  

In Vietnam siegte 1973 nicht der Goliath US-Armee, sondern David, die Bevölkerung dieses Landes.

In Ostberlin und in Moskau konnten sich 1989  die Polit-Büro-Kolosse nicht mehr behaupten – es siegte die Demokratie-Bewegung.

Beim Thema Atomkraft siegten nicht die Energiekonzerne und nicht die Atomlobby, sondern  die Basisbewegung gegen atomare Anlagen, auch wenn es schrecklicher Nachhilfestunden bedurfte – in Harrisburg, in Tschernobyl und mit Fukushima.

Und in Stuttgart wird am Ende die Bewegung gegen Stuttgart 21, gegen die Stadtzerstörung den Sieg davon tragen, wenn wir nicht nachlassen, wenn wir weiter sachlich bleiben, wenn wir immer wieder deutlich fragen und wenn wir unzweideutig antworten:

Wessen Stadt? Unsere Stadt!
Wessen Bahnhof? Unser Bahnhof!
Wessen Kinder? Unsere Kinder!

Welche Gangart? Aufrecht gehen  - oben bleiben!



[1] Das ungekürzte Zitat lautet: „Ich freue mich, dass der Stuttgarter Hauptbahnhof seit nunmehr 65 Jahren ein solch markantes Wahrzeichen unserer Stadt,  ist. Die Stuttgarter Bürger sind stolz auf dieses Bauwerk. Der Bahnhofsturm und die gewaltige Front am ehemaligen Bahnhofsplatz, der heute den Namen meines Vorgängers, Dr. Arnulf Klett, trägt, stellen eine unverzichtbare Bereicherung des Stadtbilds dar.
Stuttgarts Hauptbahnhof ist aber auch Ausdruck für den hohen Anspruch der Architektur der 20er und 30er Jahre. Die Stuttgarter Architekturschule wurde durch ihn in ganz Deutschland bekannt.
Die Landeshauptstadt hat mit ihrem Hauptbahnhof ein würdiges ´Tor zur Welt´. Rommel – Oberbürgermeister“. In: 65 Jahre Stuttgarter Hautbahnhof, herausgegeben von der Bundesbahndirektion Stuttgart 1987.

[2] Heinrich Steinfest schrieb einen Stuttgart21-Roman mit dem genannten Titel.