Gleisneigung bei S21: Gefährlich!
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- 27 Juli 2015
Die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Fraktion DIE LINKE zu „Wegrollvorgängen bei der Bahn aufgrund der Gleisneigung in Bahnhöfen“ – eine erste Bewertung von Sabine Leidig.
Die Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage ist höchst aufschlussreich. Sie erhärtet die Kritik, die die LINKE im Allgemeinen und ich als verkehrspolitische Sprecherin im Besonderen seit vielen Jahren am Projekt Stuttgart 21 vortragen. Es sind im Wesentlichen fünf Aspekte, die bei der o.g. Antwort ins Auge fallen.
1. Eine erhebliche – in dieser Form bislang nicht dokumentierte – Anzahl von Wegrollvorgängen
In der Antwort der Bundesregierung werden 29 Wegrollvorgänge in Bahnhöfen seit 2003 dokumentiert. Davon entfallen 22 auf den Kölner Hauptbahnhof. Dieser stellt unter allen Bahnhöfen in Deutschland eine Besonderheit dar, da in diesem die Gleisneigung zwischen 3,68 und 6,8 Promille beträgt, was deutlich über dem Wert liegt, der in der Eisenbahn- Bau- und Betriebsordnung (EBO) in Paragraf 7 mit 2,5 Promille als maximaler Soll-Wert für einen Bahnhof festgelegt ist („Die Längsneigung von Bahnhofsgleisen […] soll bei Neubauten 2,5 Promille nicht überschreiten.“).
Dabei wurden in der Kleinen Anfrage die Wegrollvorgänge in Köln nur im Zeitraum 2010 bis Anfang 2015 erfasst. Darüber hinaus spricht sehr viel dafür, dass die Dunkelziffer mit nicht erfassten Wegrollvorgängen groß ist. Wenn es im Kölner Hauptbahnhof nach dieser Aufstellung beispielsweise im Jahr 2013 zehn solcher Vorgänge gab und 2014 immerhin noch fünf, so lassen die Angaben von nur einem solchen dokumentierten Vorgang im Jahr 2011 oder von nur zwei solchen Vorgängen im Jahr 2012 Zweifel dahingehend aufkommen, inwieweit wirklich alle realen Wegrollvorgänge registriert werden.Auf alle Fälle belegen die dokumentierten Wegrollvorgänge, dass ein Wegrollen von Zügen in Bahnhöfen ein nicht ungewöhnlicher, wenn auch ein gefährlicher Vorgang ist. Er gehört offensichtlich solange zum Bahnalltag, wie die Lage der Gleise in Bahnhöfen nicht absolut horizontal verläuft.
2. Wegrollvorgänge finden bereits bei geringer Gleisneigung statt
Die dokumentierten Wegrollvorgänge fanden generell auch bei eher geringer Gleisneigung statt. Beispielsweise wird für den Hamburger Hauptbahnhof ein solcher Vorgang für den 7. November 2011 dokumentiert. Dort liegt das Gleisgefälle bei maximal 1,5 Promille. Dokumentiert ist mit Datum 9. Juli 2011 sogar ein Wegrollvorgang im Berliner Hauptbahnhof. In diesem neuesten deutschen Großbahnhof ist die Gleisneigung nochmals geringer. Das bestätigt, was Fachleute mit Blick auf Stuttgart 21 immer wieder betonen: Wegrollvorgänge finden bei modernen Zügen aufgrund des extrem niedrigen Rollwiderstandes bereits bei äußerst geringer Gleisneigung statt. Weswegen die neue Festlegung im chinesischen Schienenverkehr, wonach in allen neu gebauten Bahnhöfen die Gleise absolut horizontal liegen müssen, gut nachvollziehbar ist. Es ist vor diesem Hintergrund unverständlich, warum die Bundesregierung auf eine entsprechende Frage nur ausweichend antwortet und argumentiert, eine solche horizontale Lage der Gleise in Bahnhofsbereichen sei lediglich „anstrebenswert“. Das heißt im Klartext: So sicher wie es im chinesischen Schienenverkehr zugeht, muss es hierzulande nicht zugehen.
Im Fall des Kölner Hauptbahnhofs wird in der Antwort der Bundesregierung auch dokumentiert, in welchem Gleis die Wegrollvorgänge stattfanden. Von den festgestellten 22 Vorgängen fanden 21 im Bereich der Gleise 4 bis 8 statt. Das sind interessanterweise die Gleise mit einer Gleisneigung, die zwar immer noch deutlich über der Maximalnorm von 2,5 Promille liegt, die aber im Vergleich zu den anderen Gleisen in diesem Hauptbahnhof mit 3,68 Promille ein eher niedriges Gefälle aufweisen. In Köln hat Gleis 2 ein Gefälle von 5,1 Promille und Gleis 3 sogar ein solches von 6,8 Promille. Auf diesen Gleisen gab es aber im genannten 5-Jahres-Zeitraum nach der offiziellen Auswertung nur einen solchen gefährlichen Vorgang – und zwar am 18. Januar 2015 (auf Gleis 3). Alle anderen 21 Wegrollvorgänge fanden auf den Gleisen 4 bis 8 statt. Die Erklärung für diesen zunächst verwirrenden Vorgang lautet: Es sind primär die Fernverkehrszüge, bei denen es zu den gefährlichen Wegrollvorgängen kommt. Auf den Gleisen 2 und 3, auf denen überwiegend Nah- und Regionalverkehr stattfindet, kommt es in deutlich geringeren Umfang zu solchen Vorgängen, da sich hier vor allem Lokführer mit lokalen Kenntnissen im Führerstand befinden.
3. Eine horizontale Gleislage verhindert laut Bundesregierung „theoretisch“ Wegrollvorgänge.
Tatsächlich ist das höchst praktisch der Fall. Die Bundesregierung beantwortet die Frage nach einer möglichen höheren Betriebssicherheit und einem Verhindern der Wegrollvorgänge einerseits damit, dass die Lage von absolut horizontalen Gleisen tatsächlich jegliches Wegrollen ausschließen würde.1 Sie glaubt jedoch betonen zu müssen, dass dieser Ausschluss damit nur „theoretisch“ erfolgen könnte.
Offensichtlich hat die Bundesregierung hier bereits Stuttgart 21 im Blick. Denn eigentlich verhält es sich doch anders. Eine solche horizontale Verlegung der Gleise verhindert nicht theoretisch, sondern höchst praktisch jegliches Wegrollen. Da sie diese sichere Praxis konkret im Fall Stuttgart 21 neu zu verletzen gedenkt, verweist sie zur Erreichung einer größeren Betriebssicherheit auf Maßnahmen von DB Fernverkehr im Bereich des Personaleinsatzes wie „Nachschulungen der Triebfahrzeugführer mit Lernerfolgskontrollen“, auf „Belehrungen“ derselben und auf eine „Überwachung“ der Verkehrsvorgänge.
Die letztgenannten Maßnahmen im Bereich des Personaleinsatzes erscheinen ausgesprochen fragwürdig; sie sind in jedem Fall unzureichend. Menschliche Fehler wird es immer geben. Sie müssen im Bereich der Betriebssicherheit in Bahnhöfen so weit wie möglich ausgeschlossen werden. Und sie können ausgeschlossen werden – weitgehend durch die Einhaltung des in der EBO genannten Maximalwertes von 2,5 Promille bei der Gleisneigung in Bahnhöfen und vollkommen bei der Anlage der Bahnhofsgleise in absolut horizontaler Lage.
4. Bundesregierung bagatellisiert erneut die Gleisneigung bei Stuttgart 21 in unverantwortlicher Weise
Die Neigung bei den Gleisen 4 bis 8 im Kölner Hauptbahnhof beträgt mit 3,68 Promille gerade einmal 24,3 Prozent des Gleisgefälles, das es bei Stuttgart 21 mit 15,143 Promille geben wird. Oder auch: Das Gleisgefälle bei Stuttgart 21 ist mehr als vier Mal größer als das im Kölner Hauptbahnhof. Wenn es in Köln im Fünfjahreszeitraum die genannten 22 Wegrollvorgänge gab (21 auf den Gleisen 4-8), dann spricht alles dafür, dass es bei gleichen Bedingungen in einem Hauptbahnhof Stuttgart 21 deutlich mehr solcher Wegrollvorgänge geben wird. Und wenn es laut Antwort der Bundesregierung bei den registrierten 22 Wegrollvorgängen in Köln „sieben Leichtverletzte“ gab, dann ist die Gefahr einer deutlich größeren Zahl von Verletzten und einer größeren Schwere der Verletzungen bei Wegrollvorgängen im S21-Schrägbahnhof gegeben.
Dennoch antwortet die Bundesregierung auf den Verweis des deutlich größeren Gefälles im Fall S21 verglichen mit Köln Hauptbahnhof wie folgt bagatellisierend: „Physikalisch erwachsen daraus (aus den 15,143 Promille Gefälle bei S21; d. Verf.) keine Schwierigkeiten, weil Eisenbahnbremsen Züge auch in wesentlich stärker geneigten Gefälleabschnitten halten können.“
Ähnlich argumentierte übrigens in der S21-Schlichtung im Jahr 2010 bereits Bahnvorstand Volker Kefer – damals wie heute verantwortlich für das Projekt Stuttgart 21. Damals antwortete Kefer auf die Feststellung von Klaus Arnoldi vom VCD Baden-Württemberg, S21 habe eine „sechsfache Abweichung von der [EBO-] Norm“ mit den Worten: „Herr Arnoldi, das ist doch trivial. Es gibt keinen Unterschied, ob sie eine zweifache, dreifache oder eine sechsfache Abweichung haben.“ (Protokoll der Schlichtungsrunde vom 20. November 2000).
Das, was Kefer sagte, war bereits 2010 falsch. Und das, was die Bundesregierung zum selben Thema im Sommer 2015 antwortet, ist ebenfalls falsch. Tatsächlich gibt es „physikalisch“ [gesehen] erhebliche Unterschiede bei den nunmehr vier dokumentierten unterschiedlichen Gleisneigungen in Bahnhöfen: absolut horizontal (China), 2,5 Promille (EBO); 3,6 Promille („Dr Zuch kütt“ in Köln Hauptbahnhof) und 15,143 Promille im S21-Schrägbahnhof.
Und das muss praktische Konsequenzen haben. Was im Kölner Hauptbahnhof bei den beschriebenen Wegrollvorgängen bisher noch glimpflich ausging, weil ein dort wegrollender Zug zunächst eher relativ langsam in Bewegung gerät und auch nur langsam Fahrt aufnimmt, sieht in einem S21-Bahnhof bei 15 Promille Gleisneigung deutlich anders aus: „Ein in einer Neigung von 15 Promille ungebremst stehender ICE-Zug erreicht bereits nach zehn Sekunden eine Geschwindigkeit von 4,8 km/h und durchfährt in dieser Zeit eine Wegstrecke von 6,7 Metern.“ (Eberhard Happe, „S21 – Schrägbahnhof mit 15 Promille Gefälle“, in: Lösch/Stocker/Leidig/Wolf, Oben bleiben! Die Antwort auf Heiner Geißler, Köln 2011, S. 75.).
Das aber heißt: Die beschriebenen Wegrollvorgänge in Köln, die trotz „Nachschulungen“, trotz „Belehrungen“ und trotz „zusätzlichen direkten Überwachungen“ (siehe die Antworten der Bundesregierung auf Frage 9) regelmäßig auftreten, sind bereits gefährlich. Eine vier Mal größere Gleisneigung erhöht diese Gefahr drastisch. Es ist objektiv falsch und in hohem Grad unverantwortlich zu behaupten, dass „physikalisch daraus keine Schwierigkeiten (erwachsen)“.
5. Bundesregierung erklärt bereits heute, S21 werde ein äußerst spezifischer Haltepunkt – ein Hauptbahnhof ohne die Wesensmerkmale eines Bahnhofs
Die Bundesregierung argumentiert in Beantwortung unserer Frage Nr. 11, welche Folgen eine vier Mal höhere Gleisneigung im S21-Tiefbahnhof Stuttgart im Vergleich zum Kölner Hauptbahnhof haben würde, mit den Sätzen: „Aufgabe der Deutschen Bahn AG ist es, die gebotenen Maßnahmen zu ergreifen, um die Betriebssicherheit zu gewährleisten. […] Das Eisenbahn-Bundesamt wird […], sofern erforderlich, zusätzliche Auflagen erteilen.“Die Bundesregierung ignoriert mit diesen Sätzen zum einen die besondere und direkte Verantwortung, die die sie als Vertreterin des Bundes laut Verfassung – Grundgesetz Artikel 87e – für die Schieneninfrastruktur, also hier für das Projekt Stuttgart 21 hat. Zum anderen verweist sie auf „die Deutsche Bahn AG“ wie auf ein x-beliebiges Unternehmen, und ignoriert dabei, dass sich dieses Unternehmen zu 100 Prozent im Eigentum des Bundes befindet. Damit ergibt sich eine doppelte Verantwortung der Bundesregierung für S21 und für die zur Debatte stehende Schräglage dieses Projekts im physikalischen und im rechtlichen Sinn. Schließlich deutet die Bundesregierung – durchaus zutreffend – an, dass das Eisenbahn-Bundesamt – auch eine Institution des Bundes selbst, eine dem Bundesverkehrsministeriums unterstellte Behörde – für den Schienenverkehr im S21-Bahnhof gegebenenfalls „zusätzliche Auflagen“ erteilen wird.
Das aber heißt: Stuttgart 21 wird ein höchst besonderer Hauptbahnhof sein, weil es in diesem eine sechs Mal höhere Gleisneigung als mit der EBO-Norm vorgegeben gibt.
Stuttgart 21 wird ein höchst besonderer Hauptbahnhof sein, weil in diesem nicht nur – u.a. aus Brandschutz-Gründen – keine Dieselloks verkehren dürfen. In diesem können auch keine normalen Züge mit elektrischer Traktion verkehren. Hier dürfen gewissenmaßen nur „S21-Züge“ verkehren, Züge, die den noch im Ungefähren gehaltenen „zusätzlichen Auflagen“ des Eisenbahn-Bundesamtes Genüge tun. Damit kann dort selbstverständlich auch nicht ein x-beliebiger TGV der französischen SNCF verkehren, sondern nur einer, der diesen EBA-Auflagen genügt.
Stuttgart 21 wird auch kein echter Bahnhof sein, da in demselben – anders als in allen übrigen Bahnhöfen – ein „regelmäßiges Anhängen und Abkoppeln von Fahrzeugen“ nicht stattfinden darf. In diesem Sinn hat man sich, wie dies ebenfalls in dieser Antwort der Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage dokumentiert wird, Ende 2014 bei der EU eine neue Verordnung ((EU) 1299/2014 vom 18. November 2014) über „die technische Spezifikation für die Interoperabilität des Teilsystems ´Infrastruktur´ des Eisenbahnsystems in der Europäischen Union bestellt – und diese 1:1 so erhalten, dass mit dieser der krasse Sonderfall „Stuttgart 21“ implizit abgesegnet wird. In dieser neuen Verordnung heißt es: „In neuen Gleisen, in denen regelmäßig Fahrzeuge angehängt und abgekuppelt werden, darf die Längsneigung 2,5 Promille nicht überschreiten.“ Ausgerechnet im S21-Bahnhof sollen – anders als in allen anderen größeren Bahnhöfen – keine „Fahrzeuge angehängt und abgekuppelt“ werden – womit die 2,5 Promille-Maximalgrenze entfällt und man sich mal flugs den sechs Mal einen sechs Mal höheren Grenzwert gestattet.
Übrigens: Die „zusätzlichen Auflagen“, die es offensichtlich im S21-Hauptbahnhof, der eigentlich kein Bahnhof ist, geben soll, kosten natürlich Zeit. Dies steht in erheblichem Kontrast dazu, dass gemäß Stresstest-Fahrplan die Haltezeiten im S21-Schräögbahnhof unterdurchschnittlich kurz und zugleich die Kapazität dieses S21-Bahnhofs in der Zeit mit maximaler Auslastung überdurchschnittlich groß sein soll.
21. Juli 2015
>>Hier finden Sie die Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Linksfraktion zum Nachlesen.