Langer Arm der Betonlobby bis ins Parlament
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- 11 November 2010
- von Winfried Wolf
Bericht zur Anhörung "Stuttgart 21 und Neubaustrecke Wendlingen-Ulm" im Verkehrsausschuss am 10. November 2010
Die Anhörung des Verkehrsausschusses zu Stuttgart 21 und zur Neubaustrecke Wendlingen – Ulm am 10. November war ein Politikum. Denn eigentlich – so der Bund, so CDU/CSU und FDP und so bis vor kurzem die SPD – ist S21 „kein Projekt des Bundes“. Es handle sich vielmehr um ein Projekt der Bahn, das diese „zusammen mit Partnern“ (wie der Stadt Stuttgart, dem Land Baden-Württemberg und der Flughafen GmbH) realisiere. Formal waren es die Oppositionsparteien (Grüne, LINKE und SPD), die die Anhörung mit Experten durchgesetzt hatten. Faktisch aber war es die Bewegung vor Ort in Stuttgart, die das Thema derart prominent – und live von Phoenix übertragen - in den Bundestag brachte.
Dass sich dabei die Regierungsparteien und die von diesen gestellten Experten (Ullrich Martin, Udo Andriof, Werner Rothengatter) in eine Front mit der „Betonlobby“ und dem Vertreter der DB AG (Volker Kefer) stellen würden, war zu erwarten. Erschreckend war, dass der lange Arm der „Betonlobby“ auch direkt ins Parlament reicht: Der von der SPD bestimmte Sachverständige Heinrich Best, Vorstandsmitglied im Verband Beratender Ingenieure, musste seine Teilnahme kurzfristig absagen, da auf ihn bzw. den Verband Druck ausgeübt worden war.Strittig debattiert wurden die Themenkomplexe (1) Kosten, (2) Nutzen und (3) Demokratie.
(1) Kosten: Auch die SPD und der für Best eingesprungene Sachverständige Böttger gehen inzwischen davon aus, dass die Kosten aus dem Ruder laufen dürften. Für den verkehrspolitischen Sprecher der SPD, Beckmeyer, ist das die entscheidende Frage. Sabine Leidig, verkehrspolitische Sprecherin der LINKEN, erklärte, die offizielle Kalkulation sei „nicht nachvollziehbar“. Sie verglich die Kalkulation der DB AG mit realen, bereits abgerechneten Kosten bei vergleichbaren Projekten. Karlheinz Rössler, der von den Grünen gestellte Experte, sieht das just so und kam für S21 und NBS auf „10 bis knapp 15 Mrd. Euro“ (derzeit offiziell 7 Mrd. Euro).
(2) Nutzen: Der von der LINKEN eingeladene Hannes Rockenbauch, Vertreter des Aktionsbündnisses gegen S21, bestritt nicht nur jeglichen Nutzen der zwei Großprojekte. Er hält sie raumplanerisch, städtebaulich und mit Blick auf den Klimawandel für schädlich bzw. zerstörerisch. „In Wirklichkeit handelt es sich bei S21 um ein großangelegtes Immobilienprojekt“. Sabine Leidig verwies darauf, dass der bestehende Kopfbahnhof 1969 bereits 810 Zugbewegungen aufwies – heute sind es nur noch 650; dass es dort also gewaltige „brachliegende Kapazitäten“ gibt. Im übrigen stellte sie grundsätzlich die Konzentration auf Hochgeschwindigkeit in Frage. Trotz Dutzenden Milliarden Euro Investitionen in Neubaustrecken ging die Zahl der Fahrgäste im Fernverkehr im Zeitraum 1994 bis 2009 deutlich zurück.
(3) Demokratie: „Die letzte Instanz in unserem Land kann nicht die Sitzblockade sein“. So brachte MdB Döring die FDP-Position auf den Punkt. Demgegenüber verwiesen Rockenbauch und Leidig darauf, dass S21 von Anfang an als Überraschungscoup durchgezogen wurde, dass es bereits im Dezember 1995 die Rahmenvereinbarung zwischen Bahn, Bund, Land und Stadt gab und dass zwei Anläufe für einen Bürgerentscheid undemokratisch abgeschmettert wurden (Rockenbauch: „2007 hatten wir mit 67.000 Unterschriften drei Mal mehr Unterschriften gesammelt, als das Quorum verlangte!“; Leidig: „Tatsächlich wird nur zugelassen, dass man über einzelne Varianten eines grundsätzlich zerstörerischen Projekts debattiert“). Rockenbauch hob die Bedeutung des zivilgesellschaftlichen Engagements und der demokratischen Kultur hervor : „Jede Stadt muss stolz sein auf eine derart breite und kreative Bewegung, wie wir sie in meiner Stadt gegen S21 haben“. Er appellierte an das Parlament: „Stoppen Sie S21. Das ist ein kleiner Schritt für Sie. Es wäre ein großer Fortschritt in Deutschland.“