„Frau Merkel, übernehmen Sie!“

Positionspapier zum Vorschlag von Heiner Geißler ″Frieden in Stuttgart″ von Sabine Leidig

Heiner Geißler hat einen neuen Vorschlag zur Beilegung des Konflikts um Stuttgart 21 mit dem Titel ″Frieden in Stuttgart″ vorgelegt. Dieser Vorschlag bietet tatsächlich einen wichtigen Ansatzpunkt, um die Zuspitzung des Konflikts vor Ort zu vermeiden und die Deutsche Bahn und die Bundesregierung davon abzuhalten, mit neuen großen Baumaßnahmen vor Ort zur Eskalation beizutragen.

 

  1. Die Reaktionen des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21 und des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann auf den neuen Geißler-Vorschlag finden meine Unterstützung. Der Vorschlag muss ernstgenommen und damit sorgfältig überprüft werden.
  2. Dies erfordert allerdings unabdingbar einen Bau-und Vergabestopp. Realistischerweise dauert eine Überprüfung eines solchen Vorschlags und eine neue öffentliche Evaluierung desselben zwei bis drei Monate. Unter Berücksichtigung der Urlaubszeit ist es daher realistisch, einen solchen Bau- und Vergabestopp bis Ende Oktober zu fordern. Die Maßnahmen der Deutschen Bahn AG, die noch am Wochenende des 30. und 31. Juli nach eigenen Angaben neue Aufträge in größerer Millionen Euro Höhe vergab, sind zu verurteilen. Mit ihnen tragen die Bahn und ihr Eigentümer, der Bund, zur weiteren Eskalation bei.
  3. Der Vorschlag, den Kopfbahnhof beizubehalten, in diesem den größten Teil des Regionalverkehrs abzuwickeln, und einen neuen Tunnelbahnhof einzurichten, in dem der größte Teil des Fernverkehrs stattfindet, ist nicht neu. Es gibt sachlich ernstzunehmende Gründe, auch diesen Vorschlag kritisch zu bilanzieren.

    - Die Kosten für ein solches Projekt dürften bei mindestens der Hälfte von S21 liegen, also bei rund
    2 bis 2,5 Mrd. Euro. Hinzu kommen die Kosten für eine Optimierung des Kopfbahnhofs, die mindestens 500 Millionen Euro erfordern. Insgesamt würde damit für den Stuttgarter Hauptbahnhof ein Betrag erforderlich, der rund doppelt so hoch ist wie die Kosten des Berliner Hauptbahnhofs.
    - Wir haben im Fall der Realisierung des Geißler-Vorschlags dann in Stuttgart DREI Bahnhöfe - den Kopfbahnhof für den Regionalverkehr, den neuen Tief- u. Durchgangsbahnhof für den Fernverkehr und den S-Bahn-Durchgangsbahnhof. Die Umsteige-Aktivitäten werden damit deutlich verkompliziert. Auch ein integraler Taktfahrplan, der ja vor allem Regional- und Fernverkehr miteinander vertakten soll, wird erheblich verkompliziert. Im Berliner Hauptbahnhof rechnet die Bahn mit ACHT Minuten, um vom Kellerbahnhof zu den oberen Bahngleisen zu wechseln (und umgekehrt). Selbst wenn es im neuen Stuttgarter Hauptbahnhof nur vier Minuten sein sollten, um vom Regionalbahnhof oben zum neuen Fernbahnhof/tief zu wechseln, benötigen die Fahrgäste dann insgesamt rund acht Minuten Umsteigezeit im vertakteten Nah- und Fernverkehr. Dies addiert sich zu erheblichen Zeitverlusten auf.
    - Die bei S21 kritisierten Probleme, die ein Tiefbahnhof für Menschen mit Behinderungen, für Menschen mit Gepäck oder Kinderwagen mit sich bringen, bleiben bestehen.
    - Die vielfach beschriebenen Risiken hinsichtlich der Mineralwasserquellen bei der Standfestigkeit des Bonatz-Turms dürften nur teilweise geringer ausfallen; die Problematik des Grundwassermanagement bleibt erhalten; die Zerstörungen im Schloßgarten mit der Gefährdung des wunderbaren Baumbestands bleibt weitgehend bestehen.
  4. Irritierend ist vor allem ein Aspekt: Die Deutsche Bahn AG und der Bund haben es systematisch abgelehnt, die tatsächlichen Kapazitäten des Kopfbahnhofs zu evaluieren. Dazu legte die Bahnexpertengruppe ″Bürgerbahn statt Börsenbahn – BsB″ (u.a. mit Prof. Karl-Dieter Bodack und Egon Hopfenzitz) auf einer Pressekonferenz am 25. Juli im Stuttgarter Rathaus und Egon Hopfenzitz bei der Stresstest-Präsentation am 29. Juli 2011 im Stuttgarter Rathaus selbst neue Ergebnisse vor. Danach lag die Leistung des Kopfbahnhofs in den Jahren 1966 bis 1975 um bis zu 50 Prozent höher als die aktuell abverlangte Leistung. In anderen Worten: Es gibt freie Kapazitäten von 50 Prozent. Diese Fakten sind inzwischen – seit rund einer Woche – mit authentischem Material – u. a. mit Fahrplanunterlagen aus dem genannten Zeitraum – belegt. Der Verweis, die ″Zulaufstrecken″ könnten  einen entsprechend größeren Schienenverkehr (unter Einschluß des S-Bahn-Verkehrs) nicht aufnehmen, ist nicht überzeugend, da in diesem Fall die Zulaufstrecken optimiert und nicht ein Bahnhof neu gebaut werden muss.
    Es ist äußerst problematisch, wenn man in Stuttgart über einen neuen Bahnhof debattiert – sei es über Stuttgart 21 oder sei es über einen kleineren neuen Tiefbahnhof – und dabei nicht zuvor die tatsächlichen Kapazitäten des Kopfbahnhofs zur Kenntnis nimmt und diesen Schatz hebt.
    Das ist auch der entscheidende Unterschied gegenüber dem Züricher Modell. In Zürich waren die Kapazitäten des Kopfbahnhofs aufgrund der gewaltigen Zunahme des Schienenverkehrs erschöpft, deshalb wählte man als Ergänzung zum Kopfbahnhof die Lösung eines Fernbahn-Durchgangsbahnhofs in der Tiefebene. In Deutschland und auch in Stuttgart nahm nur der Schienennahverkehr zu; der Fernverkehr ist jedoch seit der Orientierung auf die Bahnprivatisierung im Jahr 1995 rückläufig.

Bilanz: Das Projekt S21 ist spätestens seit der Stresstest-Präsentation gescheitert. Der Vorschlag „Frieden in Stuttgart“ bedarf einer sorgfältigen Prüfung. Das macht einen sofortigen und strikten Bau- und Vergabestopp erforderlich. Da die Bahn-Oberen auf Durchzug stellen, gilt: „Frau Merkel, übernehmen Sie!“

Redaktion: Dr. Winfried Wolf

Info und Nachfragen: 0172-29 69 970

     

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