Bahn muss komplett neu ausgerichtet werden

„Die heutige Sitzung des Verkehrsausschusses mit Verkehrsminister Ramsauer und den Bahnvorständen Grube und Kefer war ein einziges Armutszeugnis. Dringend notwendig sind jetzt konstruktive Diskussionen über eine Revision der Bahnreform und nicht Streitigkeiten zwischen Union und SPD darüber, wer die ‚Zwangsdividende‘ der Bahn an den Bund eingeführt hat“, so Sabine Leidig, verkehrspolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE, anlässlich der Sitzung des Verkehrsausschusses zur aktuellen Situation der Deutschen Bahn AG. Leidig weiter:
„Vor knapp zwanzig Jahren wurde der Grundstein für die heutige Misere gelegt. Sparen beim Personal, bei der Instandhaltung und Sicherheit bei gleichzeitiger Steigerung von Gewinn und Börsenfähigkeit.
Notwendig ist jetzt eine komplette Neuausrichtung der Bahn: Weg von der Fokussierung auf Profite und Global Player, hin zur Optimierung des öffentlichen Nah- und Fernverkehrs im Interesse der gesamten Bevölkerung und der Bahnbeschäftigten. Das erfordert unter anderem eine Aufwertung der Arbeitsplätze. Es bedarf deutlich mehr Gelder, um mehrere Zehntausend zusätzliche Bahnarbeitsplätze, insbesondere in den Bereichen Service, Reinigung, Instandhaltung und Sicherheit zu schaffen.

Außerdem darf die DB AG nicht isoliert betrachtet werden. Es muss wieder eine Bahnpolitik aus einem Guss gemacht werden, die die privaten Bahnen, die Aufsichtsbehörden, wie das EBA und auch die Hersteller der Infrastruktur und des rollenden Materials mit einbezieht. So droht mit der Schließung des TSTG-Schienenwerkes in Duisburg, obwohl laut Grube tausende km Schienen in den nächsten Jahren erneuert werden müssen, das nächste Desaster: Keine Schienenproduktion mehr in Deutschland, Konzentration und steigende Preise auf dem Schienenmarkt und somit höhere Kosten für Steuerzahler und Bahnkunden. Das führt auch zu geringeren Investitionen in die Bahninfrastruktur. Daher muss jetzt alles getan werden, um das rentable Werk in Duisburg zu retten.“


Informationen zum TSTG-Schienenwerk vom 1. Bevollmächtigter der IG Metall Duisburg-Dinslaken und dem stellv. Vorsitzender des Betriebsrates der TSTG Schienen Technik GmbH & Co. KG:
- Brief an den Verkehrsausschuss
- Fakten zur Schienenproduktion in Deutschland
- Schiene in Deutschland – Herausforderungen für die Zukunft!


Statement und Material zur Sitzung des Verkehrsausschusses am 2. September 2013

Die Verhältnisse, die es im Bereich des Mainzer Hauptbahnhofs im August gab, insbesondere in den ersten zwei Wochen dieses Monats, sind keine Ausnahme. Sie können jederzeit an anderer Stelle und in einer vergleichbar zentralen Region zur Realität werden.

Die wesentliche Ursache dafür ist eine Politik der Bahnprivatisierung, die vor zwanzig Jahren mit der Bahnreform unter Bahnchef Heinz Dürr begann, die mit der Orientierung auf einen Börsengang, wie er seit 2000 unter Hartmut Mehdorn betrieben wurde, verstärkt wurde, und die unter Bahnchef Rüdiger Grube unvermindert, wenn auch im Ton verbindlicher, fortgesetzt wird. Im Zentrum steht dabei der radikale Belegschaftsabbau und eine immense Verdichtung der Arbeit, womit der Service massiv verschlechtert und die Sicherheitsstandards des Schienenverkehrs, die eineinhalb Jahrhunderte lang Bestand hatten, erheblich gefährdet werden.

Im folgenden soll in erster Linie auf die Situation der Beschäftigten eingegangen werden – zunächst mit dem Blick auf (noch) nicht allgemein Bekanntes.

(Redaktion: Dr. Winfried Wolf)


 

1)                 Situation auf den Stellwerken allgemein: seit drei Jahren bekannt

Nach dem Fast-Zusammenbruch des Schienenverkehrs in Mainz gesteht die Deutsche Bahn AG ein: Ja es fehlen qualifiziert ausgebildete Fachkräfte auf den Stellwerken. Bahnchef Grube nannte Ende August die Zahl von 600 Fahrdienstleitern, die fehlen und die neu eingestellt werden sollen – „noch im Jahr 2013“. Die Frage lautet: Wie konnte es dazu kommen, dass Beschäftigte in einer derart strategischen Position in so großer Zahl „fehlen“ – nicht ausgebildet wurden.

Herr Grube tut so, als wäre er  überrascht und nicht rechtzeitig informiert worden. In vielen Berichten  wird auf den Vorgänger Hartmut Mehdorn verwiesen. Das ist schlicht unwahr. Es gab in den vergangenen Jahren immer wieder Berichte über die untragbare Situation bei den Bahnbeschäftigten  - im Bereich der Lokführer seitens der GDL, im Bereich des Zugbegleitpersonals und auf den Stellwerken seitens der Gewerkschaft EVG.

Hier ein Zitat, das bislang in der Öffentlichkeit nicht verbreitet wurde – aus der Zeitung des Berliner EVG-Ortsverband, „OV Express“ – und zwar vom April 2010:

„Im gesamten Bereich der DB Netz herrscht ein akuter Fahrdienstleitermangel. (…) Inzwischen stehen viele Bereiche personell kurz vor dem Kollaps. Die Folgen sind verheerend. Die Anzahl der Überstunden der Fahrdienstleiter erreichen inzwischen biblische Dimensionen. Regelmäßig sollen die Mitarbeiter an ihren freien Tagen arbeiten kommen oder sogar auf Urlaub verzichten. Dies gipfelte darin, dass inzwischen das eine und andere Stellwerk zeitweise nicht mehr besetzt werden konnte.“

Wohlgemerkt: Verfasst vor drei Jahren.

2)                 Stellwerk Bebra heute – ähnlich wie Mainz

Im Stellwerk von Bebra im Landkreis Hersfeld-Rotenburg hatte die Bahn im Zeitraum November 2012 bis Juni 2013 vergleichbare Probleme, den Zugverkehr ordnungsgemäß abzuwickeln.  Drei Fahrdienstleiter-Stellen von 16 sind zurzeit im Bebraer Stellwerk nicht besetzt, zwei wegen längerer Krankheit.

In jüngerer Zeit konnten die Güterzüge am Knotenpunkt Bebra vermehrt nicht wie zugesagt, die Verbindung zu den vereinbarten Zeiten befahren. Augenzeugen berichten, dass oftmals Güterzüge in Bebra oder im benachbarten Ludwigsau-Mecklar zu Pausen gezwungen werden, weil das Stellwerk nicht besetzt ist. (Information seitens: osthessen-news)

Immer wieder – wie in Mainz – leisteten in Bebra zwei Fahrdienstleiter Schichten, die zu dritt hätten besetzt sein müssen. So mussten Züge beispielsweise in Cornberg und Bad Hersfeld warten, wenn die Fahrdienstleiter, wie zwingend vorgeschrieben, 15-minütige Arbeitsschutzpausen, einlegten. Dann rollte kein Zug mehr, auch ICE waren betroffen.

Es handele sich um ein bundesweites Problem, erklärte Thomas Mühlhausen von der Gewerkschaft der Lokomotivführer GDL Bebra. Es sei nur eine Frage der Zeit, wann Mainz überall sei.  Mühlhausen und ein Fahrdienstleiter berichten, seit zehn Jahren sei kein Nachwuchs ausgebildet worden, die meisten Mitarbeiter in den Stellwerken seien um die 60 Jahre alt. „Da wird einem himmelangst“, sagt der Fahrdienstleiter. Inzwischen fehle es in Erfurt beispielsweise auch an Ausbildern. Mit der Begründung neuer Technik habe man über Jahre hinweg Stellen abgebaut.

3)                 Informationen zu Stuttgart, Ulm und Augsburg 

Eisenbahner berichten über 12-Stunden-Schichten im Stuttgarts Stellwerk. Oder etliche aufeinanderfolgende Früh- und Spätschichten, zwischen denen es gerade mal 9 Stunden Pause gibt. Mancher Fahrdienstleiter musste gar 6, 7 oder 8 Wochenenden hintereinander arbeiten.
In Ulm schieben die Fahrdienstleiter 15.000 Überstunden vor sich her (Stand: August 2013)

Im Zentralstellwerk Augsburg sind nach Gewerkschaftsangaben 16 Mitarbeiter tätig, ein 17. wird gerade eingelernt. Sie arbeiten im Drei-Schicht-System: morgens und mittags jeweils vier, nachts zwei. Aktuell habe das Team im Augsburger Stellwerk mehr als 3800 Überstunden, das wären fast 6 Wochen für jeden Mitarbeiter.

Situation bei Regio Augsburg: Die Bahn will aktuell offenbar vor Gericht erzwingen, dass die rund 190 Lokführer, deren Einsatz von Augsburg aus koordiniert wird, mehr Schichten fahren als laut Tarif zulässig. Der Betriebsrat hatte sich dagegengestellt. Wie es heißt, werden einige bald ihre maximal erlaubten 261 Einsatztage voll haben.

4)                 Beispielhaft Kornwestheim (bei Stuttgart)

Das Lehrstellwerk in Kornwestheim wurde 1995 von der DB geschlossen. Es blieb bis heute nur auf persönlichen Arrangement von Mitarbeitern und einem zu diesem Zweck gebildeten Verein erhalten. Die Bahn wollte das Stellwerk nach der Bahnreform plattmachen. Gerettet wurde das Lehrstellwerk vor allem dadurch, dass das Denkmalamt den technischen Schatz entdeckte und unter Schutz stellte. Die traditionsreiche Eisenbahnstadt Kornwestheim stellte auch Geld für die Sanierung zur Verfügung. Ein außergewöhnliches und voll funktionsfähiges Technikdenkmal entging so der Zerstörung.
Nun rief vor einem Jahr die Ausbildungskoordinatorin aus der DB-Zentrale in Berlin in Kornwestheim an. Sie wollte wissen, ob der Konzern das Lehrstellwerk wieder für den Unterricht nutzen könne, erzählt Vereinsvorstand Fischer. Die Bahn habe zu wenig Kapazitäten in der Fahrdienstleiterausbildung, so die Begründung.  Für 2013 wurden 15 Einführungslehrgänge geplant – jeweils eine Woche lang. (Information nach: Hermann Abmayer, in: Kontext/taz).

 Es kann kaum einen bezeichnenderen Vorgang wie den hier geschilderten geben. Wobei dieser drei Erkenntnisse vermittelt: (1) Die DB AG hat rigoros die Stellwerker-Ausbildung reduziert, um „zu sparen“. (2) Wenn es nicht Eisenbahner mit Herz und ehrenamtlichem Engagement geben würde, stünde die Bahn heute noch weit schlechter da als sie ohnehin da steht. (3) Die Bahn weiß seit gut einem Jahr, dass sie bei den Fahrdienstleistern einem Fiasko zusteuert, sonst hätte es in Kornwestheim diese Reaktivierungsversuche bereeeits 2012 nicht gegeben. Doch auch jetzt wurde halbherzig vorgegangen – weswegen es „zu Mainz“ kam.

7)                 20 Jahre Bahn-Deform

Die im August in Mainz deutlich gewordene Situation bei der Bahn im allgemeinen und bei den Beschäftigten im besonderen kann nach Auffassung der Partei DIE LINKE nur in einem größeren Zusammenhang verstanden werden. Und dieser Zusammenhang heißt: Die Politik der Bahnprivatisierung, beschönigend als „Bahnreform“ bezeichnet, ist auf der ganzen Linie gescheitert.

Als im Januar 1994 die Deutsche Bahn als Aktiengesellschaft als Zusammenschluss von Reichsbahn und Bundesbahn  gegründet wurde, da nannte man das „Bahnreform“ und verband mit dieser die drei Ziele: weniger Subventionen, ein höherer Marktanteil der Schiene und eine Bahn als Serviceunternehmen anstelle einer „Behördenbahn“. Heute zahlen die Steuerzahler mit 15 Milliarden Euro deutlich mehr Subventionen für die Schiene als Anfang der 1990er Jahre. Die Marktanteile konnten nicht gesteigert werden.  Und die Deutsche Bahn  AG hat ein miserables Ansehen bei den Fahrgästen und in der Öffentlichkeit – trotz der bewundernswerten Leistungen der Beschäftigten und wegen des systematischen Missmanagements des Top-Personals.

Übrigens: Es gab viel Protest, dass mit Mainz eine Landeshauptstadt, die laut Fahrplan ein zentraler Knoten im Schienenfernverkehr ist, von diesem Schienenverkehr wochenlang „befreit“ war. Mit Magdeburg und Potsdam sind jedoch fahrplanmäßig zwei ostdeutsche Landeshauptstädte seit einem Jahrzehnt weitgehend vom Schienenfernverkehr „befreit“.

Notwendig ist eine komplette Neuausrichtung der Bahn – weg von der Orientierung auf Profite und Global Player und mit der einzigen Verpflichtung, für einen optimalen Schienenverkehr im Interesse der gesamten Bevölkerung und der Bahnbeschäftigten zu sorgen. Das erfordert unter anderem eine Aufwertung der Bahnjobs - mehr Geld und weniger Stress - und mehrere Zehntausende zusätzliche Bahnarbeitsplätze, insbesondere in den Bereichen Service, Reinigung, Instandhaltung und Sicherheit.

 

5)                 Allgemein – Kahlschlag bei den Beschäftigten

Die Personalsituation bei der Deutschen Bahn AG hat sich seit der Bahnreform des Jahres 1994 kontinuierlich verschlechtert. Trotz deutlich gestiegener Leistungen insbesondere im Nahverkehr und im Schienengüterverkehr wurde die Beschäftigtenzahl im inländischen Schienenbereich (DB AG plus andere Bahngesellschaften) von 350.000 im Jahr 1994 auf weniger als 150.000 im Jahr 2012 mehr als halbiert. Das ist wesentlich mehr als Arbeit durch Produktivitätsfortschritte reduziert wurde.
Selbst wenn man sich auf den Zehn-Jahres-Vergleich 2012 – 2002 beschränkt gab es laut offizieller Statistik der Deutschen Bahn AG im Bereich Nahverkehr einen Belegschaftsabbau von 16,1 % (von 44.024 auf 36.959 – jeweils am Jahresende 1994 und 2012 und jeweils in Vollzeitkräfte umgerechnet). Im Fernverkehr lag der Abbau bei 40,1 % (von 27.013 auf 15.947). Im besonders sicherheitsrelevanten Bereich Fahrweg ging die Beschäftigtenzahl um 16,4 %.
Zahlen, die erst seit wenigen Tagen vorliegen, zeigen: Bei der Eisenbahnaufsicht des Eisenbahnbundesamtes (EBA), also im äußerst sicherheitsrelevantes Bereich, gab es sogar einen Abbau der Beschäftigten um 31 Prozent (siehe Tabelle unten).

 

6)                 Überstunden


Parallel nahm der Arbeitsstress der Bahnbeschäftigten enorm zu. Dafür sind u.a. die ständig mehr abverlangten Überstunden verantwortlich.
Insgesamt gibt es im Bereich Bahn (Inland) 8,1 Millionen aufgelaufene Mehrleistungsstunden – auch hier gab es gegenüber dem Vorjahr einen weiteren Anstieg um 800.000 oder um knapp 10 Prozent.
Allein im Bereich Netz gab es laut Stand Juni 2013 2,4 Millionen aufgelaufene Mehrleistungsstunden; dabei wurden diese gegenüber dem Vorjahr (Juni 2012) um zusätzliche 200.000 Mehrleistungsstunden aufgestockt.

Personalentwicklung bei der Deutschen Bahn AG 2002-2012
in einzelnen Sektoren des Schienenverkehrs


Segment

2002

2011

2012

2002-2012

 

in absoluten Zahlen (VZP*)

absolut

in %

Nahverkehr

44.024

37.131

36.959

- 7.065

- 16,1 %

Fernverkehr

27.013

15.976

15.947

- 11.066

- 40,1 %

Fahrweg

49.499

41.136

41.400

- 8.099

- 16,4 %

Bahnhöfe

5.309

4.817

4.797

- 512

- 9,6 %

Zwischensumme

125.845

99.060

99.103

- 26.742

- 21,3 %

nachrichtlich:

 

 

 

 

 

Eisenbahnaufsicht (EBA)**

194

135

132

-62

- 31 %

Schienengüterverkehr

29.399

32.466

31.770

nicht vergleichbar***

Logistik u. Ausland (o. Schiene)

40.681

62.197

64.199

23.518

+ 57,8 %

Arriva (Bus- u. Bahnverkehr Ausland)

-

38.196

39.545

-

-

* VZP = Vollzeitkräfte (ggfs. umgerechnet)
**Eisenbahnaufsicht: Die beim EBA beschäftigten Personen (VZP) in den Bereichen Aufsichtspersonal (1) über Signal-, Telekommunikation u. elektrotechnische Anlagen und (2) über  Gleise, Weichen, Brücken u. sonstige Anlagen
*** nicht vergleichbar, weil Schienengüterverkehr im Ausland dazu kam
Quellen:
Daten und Fakten 2002, herausgegeben von der Deutschen Bahn AG, S. 27
Daten und Fakten 2012, herausgegeben von der Deutschen Bahn AG, S. 10.
Zum EBA: Antwort Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf eine Berichtsanforderung der Abg. Frau Dr. Gesine Lötzsch vom 13. August 2013