Stuttgart 21 überdenken und verhindern

Ihre Rede im Rahmen der Haushaltsdebatte am 17.09.2010 fokussierte Sabine Leidig ganz auf die Kritik am Milliardenprojekt Stuttgart 21:
"Angesichts neuer Fakten die Meinung zu ändern, ist eine Frage der Vernunft und keinesfalls ehrenrührig. Das Augen-zu-und-durch-Motto zeigt nicht Standfestigkeit, sondern Starrsinnigkeit." 


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Sabine Leidig (DIE LINKE):

Werte Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte tatsächlich noch einmal dafür werben, den Beschluss zu Stuttgart 21 zu überdenken und zu verhindern, dass dort viele Milliarden unsinnig vergraben werden. Wir glauben nicht, dass virtuelles Geld in Massen zur Verfügung steht. Wir wissen, dass das Geld knapp ist. Genau deshalb muss man diesen Beschluss überdenken. Es ist doch völlig unsinnig, dass Großprojekte auf jeden Fall durchgezogen werden, nur weil irgendwann einmal vertragliche Grundlagen geschaffen worden sind, die jedoch auf völlig falschen Fakten beruhen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf nicht gebaut. Der Schnelle Brüter in Kalkar ist nicht in Betrieb gegangen, weil sich die Grundlagen verändert hatten. Es gehört doch zum politischen Vermögen, zu erkennen, dass sich Verhältnisse verändern. Es hat von Anfang an begründete Skepsis gegenüber dem Projekt Stuttgart 21 gegeben. Schon vor 14 Jahren ist ein Büchlein erschienen, in dem ganz vieles wunderbar zusammengefasst ist. Es hat allerdings auch eine Menge Versprechungen und Vorstellungen gegeben, was es Tolles gibt.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Es genügt eigenes logisches Denken, um den Sinn zu erfassen!)

In den letzten Monaten ist aber eine ganze Reihe von Fakten auf den Tisch gekommen, die bisher unter Verschluss gehalten waren.

(Beifall bei der LINKEN Patrick Döring (FDP): Dann können sie nicht auf den Tisch gekommen sein, Frau Kollegin!)

Die bisher unter Verschluss waren.

(Patrick Döring (FDP): Es ist alles öffentlich!)

Ich spreche noch darüber. Es ist deshalb nicht ehrenrührig, wenn man seine Meinung ändert; das ist eigentlich das Vernünftige. Der vernünftige und erst recht der politische Verstand gebietet es, dann die Meinung zu ändern.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich will noch etwas zum Rechtsstaat sagen. Er kennt das Prinzip von Treu und Glauben. Dieses Prinzip ist verletzt worden. Wer vor diesem Hintergrund nach dem Motto verfährt: „Augen zu und durch“, und wie die Kanzlerin sagt, das sei standfest, der irrt. Das ist nicht standfest, sondern starrsinnig oder sogar suspekt.

(Beifall bei der LINKEN)

Schon im Oktober 2008 hat der Bundesrechnungshof Fundamentalkritik geübt und gesagt: Stuttgart 21 muss als Projekt des Bundes anerkannt und unter parlamentarische Kontrolle gestellt werden. Das haben Sie ignoriert. Die Deutsche Bahn AG hat beschlossen, dass der Bau jetzt losgeht.

(Patrick Döring (FDP): Wie bei allen Bahnhofsbauten!)

Seit dieser Bau losgegangen ist, gibt es jede Woche eine Demonstration, und zwar jeden Montag. Das Wort „Montagsdemonstrationen“ haben Sie, glaube ich, schon einmal gehört.

(Patrick Döring (FDP): Das ist schon peinlich! Anmaßend gerade von Ihnen!)

Es ist nicht die Linke, die dort demonstriert, sondern die Bevölkerung von Stuttgart. Gehen Sie doch einfach einmal dorthin, und schauen Sie sich an, mit welchen Leuten Sie es dort zu tun haben!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Am Anfang waren es nur zwei Leute, die dort demonstriert haben. Als ich im Februar dort war, waren es schon 2 000. Als ich vor 14 Tagen dort war, waren es 20 000 Leute. Damals hat der evangelische Prälat von Stuttgart gesprochen. Er hat dieses Projekt mit dem Turmbau zu Babel verglichen. Sie sollten darüber nachdenken, was das bedeutet.

Am 8. Juli hat der stern über ein Gutachten berichtet, das die Landesregierung vor zwei Jahren in Auftrag gegeben, aber auch zwei Jahre unter Verschluss gehalten hatte. Darin ist die Rede vom „hohen Stabilitätsrisiko“ und von „einer geringen Gestaltungsmöglichkeit des Fahrplanes“. Es wird konkret nachgewiesen, dass sich der Schienennahverkehr durch das Projekt verschlechtern wird.

(Beifall der Abg. Heike Hänsel (DIE LINKE) sowie des Abg. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Am Ende dieses Berichts heißt es wörtlich:
Aufgrund der Brisanz der vorliegenden Resultate ist absolutes Stillschweigen erforderlich.
Ich bitte Sie, das ist doch unverantwortlich. Da können Sie nicht von Demokratie reden.

(Beifall bei der LINKEN)

Am 11. August hat das Bundesumweltamt seine Studie zur Entwicklung der Schieneninfrastruktur vorgelegt, und die Verfasser meinen, dass Stuttgart 21 umgehend gestoppt werden müsste, weil es kein Nadelöhr beseitigt, sondern ein neues schafft.

(Patrick Döring (FDP): Das ist völlig unbewiesen!)

Zwei Tage später lässt Grube das erste Loch in den Nordflügel des Bahnhofs reißen.

(Norbert Barthle (CDU/CSU): Reden Sie mit den Experten von der Bahn!)

Die Folge davon sind Menschenketten und spontane Straßenblockaden. Sie müssen sich einmal Ursache und Wirkung vor Augen führen.

(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Am 26. August bringt der Stern ein Interview mit dem berühmten Architekten Frei Otto, der diesen unterirdischen Bahnhof übrigens einmal entworfen hat. Dieser Architekt befürchtet ein schlimmes Baudesaster, nachdem er die geologischen Untersuchungen gesehen hat, die auch nicht veröffentlicht worden sind.

(Patrick Döring (FDP): Das ist auch Quatsch, schlimmer Quatsch!)

Er sagt, man müsse jetzt die Notbremse ziehen. Über die Kostensteigerungen muss ich gar nicht mehr sprechen; denn dazu hat der Kollege Winfried Hermann geredet.

(Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Dessen Verhalten ist besonders ehrenwert!)

Die Bürgerinnen und Bürger im Schwabenland sind über diese Expertisen und Argumente bestens informiert. Das, womit wir es hier zu tun haben, ist kein Kommunikationsproblem.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Bürgerinnen und Bürger fragen sich mit Recht, warum dieses Projekt auf Biegen und Brechen durchgezogen werden soll und warum die Alternativen, die vorliegen, systematisch ignoriert werden, obwohl sie kostengünstiger sind.

(Patrick Döring (FDP): Weil sie keine Alternativen sind!)

Sie müssen sie sich einmal angucken. Lassen Sie uns im Parlament darüber reden.

(Patrick Döring (FDP): Darüber gibt es Oberverwaltungsgerichtsurteile! Das sind doch Zerrbilder!)

Man fragt sich, warum sich Bahnchef Grube wie ein Rambo gebärdet und einen intakten Bahnhof zerstört,

(Norbert Barthle (CDU/CSU): Das ist eine Beleidigung! Das nehmen Sie zurück!)

der übrigens zusammen mit Leipzig einen Wettbewerb gewonnen hat, welcher Bahnhof der pünktlichste ist.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Frau Kollegin!

Sabine Leidig (DIE LINKE):

Man fragt sich natürlich auch, warum Ministerpräsident Mappus eigentlich sein Amt als Regierungschef aufs Spiel setzen will.
Herr Präsident, wollen Sie mir sagen, dass meine Redezeit zu Ende ist? Okay.
Man fragt sich natürlich auch, ob ein Grund ist, dass Vertreter von Bilfinger Berger in diesem Beirat sitzen. Man fragt sich, ob ein Grund ist, dass die Bahnvorstände aus der Automobilindustrie kommen. Jedenfalls befürchtet man, dass die Verantwortlichen für dieses Projekt so verstrickt und so bestochen sind, dass sie nicht mehr zurückkönnen. Die Leute begreifen nicht, was hier abläuft. Die Mehrheit der Menschen in Baden-Württemberg hat dafür kein Verständnis.
Das Schild, das ich jetzt hochhalte, hängt in Stuttgart inzwischen überall: in den Wohnblocks, in denen die einfachen Leute wohnen, aber auch in der Halbhöhenlage, in der die Architekten, die Künstler, die Lehrerinnen und Lehrer wohnen.


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